Liebe Gemeinde,
liebe Schwestern und Brüder!
Am Anfang der österlichen Bußzeit wende ich mich an Sie in herzlicher Verbundenheit. Von Herzen, aber auch in tiefer Sorge. Wir erleben schwere Zeiten. Verstörende Ereignisse – wohin wir schauen – bedrücken uns und ängstigen viele.
Die turbulenten Zeiten führen uns in turbulente Auseinandersetzungen. Unversöhnliche Szenen zerreißen unser Zusammenleben und führen zu Spaltungen.
Im dritten Jahr der Corona-Pandemie leiden wir durch das mutierende Virus weiter unter der Zumutung von Krankheit
und Tod, Einsamkeiten und Existenzängsten. Noch mehr spüren wir die erschütternde Krise unserer Kirche. Immer wieder kommen neue Skandale im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester, Diakone, Ordensleute und kirchlich Beschäftigte ans Licht.
In alldem bestürzt mich besonders der kalte, abweisende Umgang mit den von Missbrauch Betroffenen, die Missachtung ihres Leids und die Verweigerung von Hilfe durch höchste kirchliche Amtsträger.
In Zusammenhang mit der Verdunklung der Taten zugunsten des vermeintlichen Schutzes der Täter werden weitere
systemimmanente Probleme deutlich:
- der öffentlich gewordene Missbrauch von Macht,
- die Verweigerung, die Erneuerung der Kirche zu gestalten,
- die Unfähigkeit, Menschen in ihren individuellen Lebenssituationen anzunehmen und ihnen wertschätzend zu begegnen
- und die Unfähigkeit, mit den großen Problemen zukunftsorientiert umzugehen.
Das alles belastet unser Miteinander-Kirche-Sein außerordentlich.
Unsere Kirche ist in ihrer Existenz gefährdet.
Liebe Schwestern und Brüder, als Bischof stelle ich mich der Verantwortung. Mit Ihnen zusammen möchte ich mich für die nachhaltige Erneuerung der Kirche einsetzen. Eine Erneuerung der Kirche in ihren Strukturen, aber auch eine geistliche Erneuerung in unseren Herzen.
Durch viele Gespräche, durch die Briefe und E-Mails, die mir viele von Ihnen schreiben, weiß ich von Wut, Trauer und Enttäuschung und auch von Ihrer Zerrissenheit; gerade dann, wenn Sie selbst in Verantwortung stehen. Zahlreiche Gläubige kehren infolge des Machtmissbrauchs der Kirche derzeit den Rücken oder treten aus der Kirche aus: auch weil sie vieles nicht mehr verstehen und mittragen können.
Vertuschung, Ausgrenzung und Lieblosigkeit, jegliche Art von Missbrauch haben in einer Kirche, die sich der Botschaft Jesu Christi und seinem Evangelium verbunden weiß, keinen Platz.
Heil und Heilsein der Menschen, das Gelingen ihres Lebens und die Erfahrung der liebenden Nähe des Gottes Jesu Christi unter uns wirklich, erfahrbar und spürbar werden zu lassen, das ist der Auftrag aller in der Kirche. Des Volkes Gottes genauso wir derer, die im Volk Gottes ihren Dienst tun.
Wenn wir in der Nachfolge Jesu Christi diese seine Botschaft nicht mehr glaubwürdig leben können – zum Heil all unserer Mitmenschen – dann haben wir das, was Christsein im Kern ausmacht, verspielt.
Noch einmal: Eine Erneuerung der Kirche in ihren Strukturen, aber auch eine geistliche Erneuerung in unseren Herzen von Jesus Christus und seinem Evangelium her, ist das Gebot dieser bitteren Stunden, die wir erleben.
Wir müssen darauf achten, dass der Geist Jesu Christi all unsere Bemühungen auf eine gute Weise bestimmt. Deshalb kann eine Erneuerung der Strukturen vor allem dann gelingen, wenn wir auch bereit sind, unsere Herzen zu erneuern.
Dazu möge uns SEIN Geist leiten.
Zum Schluss möchte ich mit Ihnen ein aussagestarkes Bild anschauen. Ich habe es für die bitteren Stunden in dieser
stürmischen Zeit ausgesucht. Sie haben es vor sich liegen. Manchmal hilft uns ein Bild, das uns die Situation, in der wir stehen, besser deutet als Worte allein. So möchte ich Sie einladen, mit mir gemeinsam das Bild zu betrachten.
Liebe Schwestern und Brüder! Sie sehen eine Darstellung der Erzählung vom „Sturm auf dem See“ aus dem Neuen
Testament. Mich persönlich spricht diese in den Evangelien überlieferte (1) Szene sehr an. Die Evangelisten schildern den Sturm auf dem Meer nicht einfach nur als historisches Faktum. Sie beschreiben bildhaft, wie die junge Christenheit damals in stürmischen Zeiten ums Überleben kämpft. Die Jünger Jesu sitzen mit Jesus im Boot.
Das Boot und die Menschen sind in einen heftigen Wirbelsturm geraten. Sie haben Angst unterzugehen.
Jesus ist zweimal zu sehen. Links im Bild schläft er mitten auf dem stürmischen Meer. – Ein Jünger – es ist wohl Petrus – drückt mit seiner Geste das aus, was wir auch heute fragen: – „Jesus, Meister, kümmert es dich in diesem bedrohlichen Sturm nicht, dass wir zugrunde gehen?“ – „Wo bist Du, Jesus, mit deinem Beistand, uns zu retten?“ –
Am Bug des Schiffleins auf stürmischer See ist Jesus ein zweites Mal zu sehen. Hier schläft er nicht. Mit ausgestrecktem Arm gebietet er den Stürmen und Wellen Einhalt. Mit seiner ganzen Gestalt weist er nach vorne. Johannes, der Jünger, der Jesus besonders liebt, steht hinter dem aufgestandenen Jesus Christus und blickt mit
ihm mutig nach vorne.
(1) Mk 4,35–41; Mt 8,18.23–27; Lk 8,22–25
Liebe Schwestern und Brüder! – Für mich hat dieses Bild eine große Bedeutung. Ich erkenne in diesem Bild die sich in heftiger Krise befindende, bedrohte Kirche auf ihrer Fahrt durch die stürmischen Zeiten in die Zukunft.
Manchmal scheint es, Gott sei unsere Situation gleichgültig, als seien wir vom schlafenden Jesus allein gelassen. Aber Petrus weckt ihn auf. Ja, wir Christen sollen Jesus Christus in unserer Kirche wirksam und stark werden lassen. Dass er uns in dieser stürmischen Zeit mit seinem Geist anführen möge. Dass das, was von Jesus Christus an helfender und heilender Kraft ausgeht, in der Erneuerung der Kirche bestimmend werde.
Wie Johannes im Boot sollten wir hinter Jesus stehen, ihn lieben und mit ihm mutig nach vorne gehen. Wo er in der Mitte der Kirche steht, wo sein Geist in uns und durch uns wirkt, da weist er uns den Weg, der aus dem Sturm führt. Er schenkt uns Zukunft und Hoffnung. Mit seinem Geist und durch ihn kann die Erneuerung der Kirche gelingen.
Liebe Schwestern und Brüder! Ich verspreche Ihnen, als Bischof werde ich gemeinsam mit den Verantwortlichen in der Diözesanleitung alles, was für die Erneuerung nötig ist, tun: in der weiteren Aufklärung der verbrecherischen Taten, in der strukturellen Aufarbeitung, in der Anerkennung des Leides der Betroffenen und in der Prävention von Missbrauch.
Viele von Ihnen wissen, dass wir in der Diözese Rottenburg-Stuttgart – ich als Bischof und die Verantwortlichen in der
Diözesanleitung – seit zwei Jahrzehnten sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch eine unabhängig arbeitende „Kommission sexueller Missbrauch“ systematisch bearbeiten.
Keine uns bekannt gewordenen Fälle wurden und werden vertuscht oder bewusst verschleppt. Alle Fälle sexuellen
Missbrauchs wurden und werden durch ein vom Bischof weisungsunabhängig arbeitendes Gremium aufgeklärt. Die
Taten, die uns bekannt sind, wurden unter der Berücksichtigung des geltenden staatlichen Strafrechts und des Kirchenrechts geahndet und die Täter bestraft.
Ich verstehe, dass viele unter Ihnen ungeduldig auf positive Ergebnisse des Synodalen Weges warten. Die intensiven
Beratungen des Synodalen Weges dürfen nicht folgenlos bleiben:
- Die Mitwirkung von Laien in der Kirche muss gestärkt werden.
- Frauen sollen sich viel stärker als bisher in der Kirche einbringen können, in Führungspositionen und im Amt der Diakonin.
- Wir müssen Formen und Zeichen finden, dass alle Menschen spüren, dass sie angenommen sind von Gott und der Kirche Jesu Christi – in ihrer leib-seelischen Identität, ihrer sexuellen Orientierung und in ihrer Liebe füreinander.
Als Bischof möchte ich mich diesen Herausforderungen stellen und auf Jesus Christus blicken, der uns die Wege weist. Wenn SEINE heilvolle und heilsame Botschaft in dieser Welt wirken soll, braucht Jesus Christus unser aller Engagement und unsere Liebe.
Beten wir füreinander in dieser schweren Zeit!
Ihr
Bischof Dr. Gebhard Fürst
Rottenburg am 2. Februar 2022,